Der Fremdling in deiner Stadt (Seite 2)

Vielleicht machen wir uns zu wenig Gedanken darüber, aber Sprache spielt eine große Rolle. Ich möchte ein drastisches Beispiel nennen: 1994 kam es zum Völkermord an den Tutsis in Ruanda. Angehörige aus der Volksgruppe der Hutus töteten innerhalb von drei Monaten etwa 800.000 bis 1 Million Tutsis. Dabei spielte auch Sprache eine Rolle. Man bezeichnete die Tutsis als Kakerlaken, als Schlangen, als Stechmücken oder Gewürm oder Bäume und Buschwerk, das gefällt werden muss. Welche Folgen hat solch ein Gebrauch von Sprache? Ein solcher Gebrauch hat die Folge, den anderen zu entmenschlichen. Wenn man jedoch in dem anderen Menschen keinen Menschen mehr sieht, sondern ein Tier oder eine Pflanze, dann sinkt die Hemmschwelle zur Gewalt. Die deutsche Geschichte hat dies auf erschreckende Weise gezeigt: Dem Holocaust ging voraus, dass die Nazis die Juden auch sprachlich entmenschlichten. Worte haben Macht.

Hüten wir uns vor entmenschlichender Sprache! Achten wir darauf, wie wir über Ausländer reden – wer immer die andere Person ist, er oder sie ist ein Mensch. „Du sollst den Ausländer nicht bedrücken.“ Ich möchte ein weiteres Beispiel nennen. Ich bin mit einer Familie befreundet, die in 2010 als Flüchtlinge nach Leipzig gekommen sind. Sie mussten fliehen, weil sie im Irak bedrückt wurden. Wenn sie dort geblieben wären, dann wären sie vermutlich jetzt tot. Sie sind fleißige Leute. Sie sind nicht gekommen, um den Staat auszunutzen. Sie hatten im Irak ein Haus, eine eigene Arbeit und führten ein gutes Leben. Sie haben dort alles verloren. Nun waren sie in Deutschland angekommen: Ein fremdes Land, eine fremde Kultur, eine fremde Sprache, fremde Menschen. Es ist kaum vorstellbar, wie viele Herausforderungen dadurch entstehen.

Welche Erfahrungen haben sie hier gemacht? In der Schule schienen die Lehrer und die Schüler nicht gerade offen für sie zu sein. Die älteste Tochter hatte eine schwere, ansteckende Lungenentzündung. Die anderen Schüler mussten daraufhin auch zum Arzt gehen, um zu prüfen, ob sie sich angesteckt haben. Die Schwester von ihr wurde deswegen von den anderen Schülern ausgegrenzt und beschimpft. Infolgedessen hat sie die Schule gewechselt.

Die andere Tochter erzählte, dass ein Junge in ihrer Klasse des öfteren sagt: „Ich kann Muslime nicht leiden.“ – Sie hat erst nicht darauf reagiert. Aber dann hat sie zu ihm gesagt: „Ich bin auch Muslim. Kannst du mich auch nicht leiden?“ – Er sagte: „Doch.“ – Sie erwiderte: „Aber du hast doch gesagt, du kannst Muslime nicht leiden.“ Und er meinte: „Aber dich kenn ich ja.“ – Was war bei dem Jungen geschehen? Bisher hatte er ein allgemeines Urteil über Muslime, aber auf einmal hatte der Muslim ein Gesicht bekommen – das Gesicht eines Menschen, den er mag.

Wie wohl die Flüchtlinge es empfinden, dass Tausende in Deutschland gegen eine Islamisierung des Abendlandes demonstrieren? Als die erste LEGIDA-Demonstration in Leipzig stattfinden sollte, fragte die Mutter der befreundeten muslimischen Familie: „Können wir am Montag auf die Straße gehen oder ist das zu gefährlich?“ Sie war verunsichert. Wir sehen daran: Es trifft die Schwächsten: Sie und viele Flüchtlinge, die neu kommen, sind in ihrer Heimat bedroht worden, haben alles verloren, mussten fliehen, und kommen hierher. Müssen sie hier auf einmal wieder Angst haben?